WM-Tagblatt

Otto-Hellmeier-Kulturhaus
Per Zeichenstift in eine andere Wirklichkeit

Raisting – „Ich fange erst an, mich darzustellen“, sagt Alexander Kowarzyk vor Beginn seiner Ausstellung „Vorbild Natur“ im Otto-Hellmeier-Kulturhaus. Der 64-Jährige hat in seinem bisherigen Schaffen so viele kulturpublizistische und kunstpädagogische Aktivitäten aufzuweisen, dass das eigene zeichnerische Opus offenbar ein wenig zu kurz gekommen war. Der gebürtige Pfrontener ist ausgebildeter Glas-und Porzellanmaler, er studierte Malerei und Grafik, Grafikdesign, arbeitete als Diplom-Designer für allererste Adressen. Neben seiner Tätigkeit als Hochschuldozent gründete er in Dettenhofen bei Dießen 2005 die „Zeichenschule Alexander de Kowa“.
Nun also zeigt er sich selbst mit Zeichnungen und Mischtechniken, die sofort faszinieren: „Aus einem Labyrinth von Linien und Strichen schälen sich langsam die Gesichtszüge heraus, nehmen Gestalt und Ordnung an“, beschrieb Laudator Dr. Hajo Düchting bei der Vernissage anhand eines bestimmten Porträts Kowarzyks hohe Kunst. Beeinflusst von Rudi Tröger, bei dem er einst studierte, entwickelte Kowarzyk hier eine „neue Dimension der  Offenheit, des Schwebens, In-der-Schwebe-Haltens“, so Düchting, „die diesen Zeichnungen eine ungeheuere Spannung verleiht“.
An der Grenze zwischen Abbild und freier Expression seien auch die Aktzeichnungen des Künstlers angesiedelt – Düchting nennt diese Form „Reibung am Wirklichen“. Kowarzyk misst sich regelrecht an den Herausforderungen, die über das bloße detailgenaue Abbilden weisen: Die Struktur eines Korbes erkundet er, eine „Hängebuche im Schackypark“ übertrifft geradezu fotografisches Niveau. Aufgeteilt auf drei Bildteile prangt eine mächtige, mit Farbstift auf Papier ziselierte „Feder“: das Vorbild Natur, fast erreicht – und doch eine Annäherung mit größtem Respekt.
Kowarzyk erzählt vor allem in seinen Porträts die „Geschichte dahinter“, fokussiert durch ins Bild integrierte Rahmen wie ein Kameramann  die Ebene der vordergründigen Physis. Seine „Alte Dame“ von 2010 ist ein Meisterwerk von Hitchcock-artiger Spannung: Eine „ältere linke Gesichtshälfte wie ein optischer Fadeout verblassend, demgegenüber eine rechte Hälfte, die mit festem Bleistiftstrich eine junge, mitten im Leben stehende Frau zeigt – ein und die selbe Frau, vital und alternd zugleich.
Kowarzyks sanftes „Überführen in eine andere Wirklichkeit“ (Düchting) beschert dem Betrachter metaphysische Schau-Ereignisse, wenn er sich darauf einlässt. Meisterschaft, die sich gerade zu zeigen beginnt.    THOMAS LOCHTE